Autorius: Holger Michael Šaltinis: https://de.sputniknews.com/kom... 2020-08-01 13:20:00, skaitė 1164, komentavo 0
„Gegen die Bolschewisten werden wir nicht kämpfen.“ – So lautete der Befehl des polnischen Armeeführers Marschall Edward Rydz-Śmigły am 17. September 1939, als sowjetische Truppen in Ostpolen, die polnische Westukraine und Westbelorussland, eindrangen. Außenminister Józef Beck entließ die rumänischen Verbündeten aus ihren Verpflichtungen, obwohl formal ein Bündnisfall eingetreten war.
Das entsprach angesichts der Niederlage gegen das faschistische Deutschland, des Aufstandes der Westukrainer und der Westbelorussen sowie der Stärke der Roten Armee nicht nur nüchternen Überlegungen. Das folgte auch den Prinzipien polnischer Außenpolitik seit der zweiten Machtübernahme von Marschall Józef Piłsudski 1926.
Das war vorher nicht so. Seit Erringung der polnischen Unabhängigkeit 1918 wollte sich Staatsführer Piłsudski aus der Konkursmasse des Zarenreiches bedienen. Anfangs erfolgreich zerschlug er die litauisch-belorussische Sowjetrepublik und nahm 1920 sogar Kiew ein. Die Rote Armee schlug zurück und stand Monate später vor Warschau und Toruń an der Weichsel. Unter großen Anstrengungen wurden die Sowjets fast auf ihre Ausgangsstellungen zurückgedrängt, ohne vernichtet zu werden.
1921 musste Sowjetrussland einem demütigenden Friedensvertrag zustimmen: Westbelorussland und die Westukraine blieben bei Polen. Dessen Bevölkerung bejubelte den enormen Gebietszuwachs, der immerhin die Hälfte des Staatsterritoriums ausmachte. Anderen gefiel das nicht: Der katholischen Kirche war das zu wenig. Die einflussreichen rechten Nationaldemokraten, die vor 1918 ein sachliches Verhältnis zu Russland gepflegt hatte, sahen in der Konzentration von nationalen Minderheiten ein enormes innen- und außenpolitischen Sicherheitsrisiko auf Polen zukommen: Unvorstellbar, dass Russland sich damit bescheiden würde.
Als die Westmächte nach ihren erfolglosen Versuchen einer Volksabstimmung in jenen Gebieten die neue Ostgrenze anerkannte, trat die 1922 gegründete UdSSR dem entgegen. In einer kaum bekannten Note von 1923 anerkannte sie die westliche Entscheidung nicht an, die ohne sie zustande gekommen war. Moskau kündigte trotz des Friedensvertrages weiterhin Interesse an diesen Gebieten an.
Etwa zeitgleich widersetzten sich die Ostslawen (Belorussen und Ukrainer) aktiv der polnischen Fremdherrschaft. Das geschah in vielfältiger Weise: Anfänglicher Wahlboykott, in Westbelorussland der von den Kommunisten propagierte Anschluss an die UdSSR, die stärkste Bauernorganisation Europas HROMADA und eine prosowjetische Partisanenbewegung. In der Westukraine hatten die Nationalisten von der OUN das Sagen. Sie terrorisierten die polnische Minderheit, die etwa 30 Prozent der Bevölkerung ausmachte.
Polen ging mit Militär dagegen vor, doch nichts half. Versuche der Zusammenarbeit mit gemäßigten „willigen“ Ukrainern scheiterten nicht zuletzt an den Kugeln der OUN. Den ukrainischen Kommunisten gelang es mit ihren belorussischen Genossen, trotz tiefster Illegalität im polnischen Parlament die Mehrheit in der kommunistischen Fraktion zu bilden. Die Verhältnisse in Ostpolen ließ Stimmen laut werden, der Regierung die Abtretung dieser Gebiete an die Russen zu empfehlen. Obwohl diese Gebiete wirtschaftlich die rückständigsten Polens waren, lagen hier die größten Ländereien polnischer Grundbesitzer, darunter auch der Kirche. Das ging also nicht.
Das war Marschall Piłsudski, der 1922 zurücktreten musste, alles bekannt. Er war zwar Nationalist, doch Realist genug, um die permanente Labilität dieses Zustandes zu erkennen. Er zog andere Schlussfolgerungen als die meisten seiner Landsleute. In Russland aufgewachsen, von dessen Behörden verfolgt, eingesperrt und verbannt, kannte er die Russen gut und erahnte, welche Kraft in diesem Land steckte.
Wenig an Wirtschaftsfragen interessiert, war ihm nicht entgangen, dass die Sowjets sich auch ökonomisch anschickten, Polen zu überholen. Dadurch war die Rote Arme inzwischen weit stärker als die von 1920. Als Oberbefehlshaber wusste er zudem, dass das Hinausdrängen der Sowjettruppen ein unwiederholbarer Pyrrhussieg war.
Da sich Piłsudski sicher war, dass sich die UdSSR jene Gebiete zurückholen würde, orientierte er militärisch darauf, den Besitzstand zu erhalten und die gewonnen Gebiete in Ostpolen zu verteidigen. Außenpolitisch hingegen setzte er auf ein sachliches und gutnachbarliches Verhältnis zur Sowjetunion. Durch gute Beziehungen zu Moskau sollten zugleich die prosowjetischen Kommunisten und ihre Anhänger paralysiert werden.
Nach seiner erneuten Machtübernahme 1926 setzte er seine neue Ostpolitik gegenüber der UdSSR um, die allerdings ihm gegenüber misstrauisch eingestellt war. Diese Zweifel versuchte er auszuräumen. Während eines feierlichen Abendessens sagte der Marschall den sowjetischen Gesandten Piotr Wojkow:
„Ich nehme an, dass es in Ihrem Land viele Leute gibt, die mich eines neuen Krieges gegen Russland verdächtigen. Wenn dem so ist, kann ich nur feststellen, dass diese Leute mich für einen Idioten halten müssen. Was für ein Interesse sollte Polen überhaupt am Krieg haben? Sein Hauptziel ist die Rekonstruktion des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens. Polen hat keinerlei territoriale Forderungen gegenüber Russland, ist auch nicht an einer Änderung der kommunistischen Gesellschaftsordnung interessiert. Jede andere Gesellschaftsordnung wird wahrscheinlich weniger wohlwollend für Polen als das gegenwärtige sein. Ich persönlich kann bei einem Krieg nur verlieren. Jetzt bin ich Sieger, doch im Falle eines Krieges kann ich nur den Verlust dieser Position riskieren.“
Das entsprach erstens der Wahrheit, zweitens der von Piłsudski verfolgte Grundrichtung seiner Politik gegenüber der UdSSR – und drittens widersprach es der Legende von seinem permanenten antisowjetischen Expansionismus. Als Wojkow von einem weißrussischen Emigranten ermordet worden war, wurde der gefasst, lebenslänglich verurteilt und alle antisowjetischen Emigrantenorganisationen des Landes verwiesen.
Dem folgten weitere Taten. 1932 schloss Polen mit der Sowjetunion einen Nichtangriffsvertrag ab, den einzigen, den es je hatte. Die subversiven antisowjetischen Zentren in polnischen Behörden wurden aufgelöst, der Kulturaustausch auf eine nie dagewesene Ebene gehoben. Sowjetische Diplomaten, Politiker, Künstler und Journalisten reisten durch Polen, besuchten Fabriken und Institutionen. Sie bekamen besonders viel Zeit für Audienzen beim Marschall eingeräumt und waren Dauergäste bei staatlichen Festlichkeiten.
Eine polnische Militärfliegerstaffel nahm sogar 1933 zu den Feierlichkeiten der Oktoberrevolution in Moskau teil. Zum Leidwesen des Marschalls kamen die wirtschaftlichen Beziehungen nicht gut voran, da das Agrarland Polen der aufstrebenden Industriemacht Sowjetunion kaum etwas bieten konnte. Dennoch wurden in jenen Jahren eine Unmenge von beiderseitig nützlichen Verträgen geschlossen.
Jene relativ angenehme Atmosphäre wurde nur von der in Volkspolen übertroffen und lag weit über dem Niveau, das das heutige Polen gegenüber Russland unnötigerweise erkennen lässt. Gegenwärtig dominiert die manipulierte Darstellung Piłsudskis als antisowjetischer Ränkeschmied.
Zwar lehnte er ein militärisches Bündnis mit Moskau ab, doch gleichermaßen auch mit den Deutschen. Deutschland und die Sowjetunion sollten auf gleichem außenpolitischen Abstand zu Polen gehalten werden. Dem diente auch des Gewaltverzichtsabkommen 1934 mit den Deutschen. Da dort die für Deutschland offenen Gebietsfragen (Oberschlesien, Danzig, Westpreußen) nicht geklärt worden waren, versuchte die deutsche Seite, Polen mit dem Besitz der Ukraine als Kompensation dafür zu ködern.
Dafür sollte die Polen gemeinsam mit den Deutschen gegen die Sowjetunion marschieren.Doch der Marschall ließ sich nicht verführen und lehnte eindeutig ab. Dieses historische Verdienst Piłsudskis geht in der heutigen Russophobie unter.
Doch die deutschen Faschisten gaben nicht auf und glaubten nach seinem Tode 1935, sein angeblich aggressives antisowjetisches Vermächtnis realisieren zu können. Adolf Hitler selbst nahm in Berlin am Trauergottesdienst für den Marschall teil. Piłsudskis Werke wurden mit einem Vorwort von Göring versehen und neu aufgelegt. Deutsche Diplomaten und Staatsfunktionäre, auch Heinich Himmler und Herrmann Göring gaben sich in Warschau bei Regierung, Militär und Polizei die Klinke in die Hand. Sie gingen mit polnischen Politikern und Militärs gemeinsam auf Bisonjagd in Ostpolen und boten Hilfe jeder einschließlich militärischer Art wie deutsche Luftunterstützung bei sowjetischen Angriffen an.
Doch die Polen, vor allem Piłsudskis Vertrauter, Außenminister Beck, kannten ihren Meister besser und ließen sich nicht verführen. Als die Deutschen versuchten, über den Antikomintern-Pakt Polen an sich zu binden, gab Beck am 9. November 1937 offiziell bekannt: Polen habe gute Beziehungen zur Sowjetunion, daher käme ein Beitritt nicht in Betracht. Auch das ist ein vergessenes Verdienst der polnischen Diplomatie.
Im Herbst 1938 kam es zu einer gefährlichen polnisch-sowjetischen Konfrontation, die mit einem Schlag die Beziehungen wieder auf den Stand von 1920 gebracht hätten. Die deutsche faschistische Führung wäre am Ziel gewesen. Seit 1918 versuchte Polen das kleine wirtschaftlich bedeutende, etwa 1.000 Quadratkilometer große Gebiet um Teschen (Olsa) mit polnischer Bevölkerung an sich zu bringen. Daher intensivierten sie die Zusammenarbeit mit Hitler, in dessen Windschatten sie während der „Sudeten-Krise“ das Gebiet annektieren wollte.
Das war kein Bündnis, keine Koordination und Polen wurde nicht nach München eingeladen. Hitler wollte, dass Polen als Aggressor dastünde und seinen schwachen Rückhalt des Westens verliert. Zudem sollte Warschau gegen die Sowjetunion aktiv werden, um doch noch als Bündnispartner gewonnen zu werden. Dieser Plan ist fast aufgegangen.
Die Sowjetunion, seit 1935 im Bündnis mit der Tschechoslowakischen Republik (ČSR), musste im Beistandsfall wegen fehlender gemeinsamer Grenzen durch Polen oder Rumänien. Warschau verhinderte das und führte zudem noch Manöver an der sowjetischen Grenze „als Warnung“ durch. Daraufhin drohte Moskau mit der Aufkündigung des Nichtangriffsvertrages. In dem Falle wollten die Deutschen einspringen. Da der Westen die Tschechoslowaken im Stich ließ und sie selbst nachgaben, entfiel auch die Moskauer Hilfeleistung.
Die polnische Armee besetzte das Gebiet um Teschen (Olsa) , „um die Polen zu schützen“. Genau das gleiche tat die Rote Armee ein Jahr später mit der Westukraine und Westbelorussland. Warschau hatte nun im Westen erheblich am Prestige verloren und versuchte, die Beziehungen zu Moskau im November 1938 wieder zu kitten. Das gelang. Die gegenseitigen Beziehungen blieben bis zur Niederlage Polens gegen die Deutschen korrekt.
Das war ein enormer Misserfolg für die faschistische Führung in Berlin: Polen konnte nun kein Bündnispartner werden. Sogleich präsentierte Hitler Warschau seine Gebietsforderungen und begann einen neuen und aggressiven Kurs gegen Polen einzuleiten. Doch das gab nicht nach und zeigte Kampfbereitschaft. Warschau lehnte aber in Bündnis mit Moskau ab, weil es auf die falschen Versicherungen des Westens setzte. Am 1. September 1939 überfiel die deutsche faschistische Wehrmacht Polen. Zwei Jahre später schloss die polnische Exilregierung unter britischem Druck den ersten Bündnisvertrag mit der Sowjetunion ab.
Literaturtipps:
Holger Michael: „Marschall Józef Piłsudski 1867 bis 1935. Der Schöpfer des modernen Polens“ Pahl-Rugenstein Nachf. Verlag Bonn/Köln 2010
Holger Michael: „Zwischen den Kriegen. Außenpolitik Polens 1918-1939“ Pahl-Rugenstein Nachf. Verlag Bonn/Köln 2013