Autorius: Reynke de Vos Šaltinis: https://www.compact-online.de/... 2022-02-02 16:43:00, skaitė 680, komentavo 0
Ist die Situation im Osten der Ukraine mit der in Südtirol vergleichbar? Schon anhand der jeweiligen Bevölkerungsstruktur lässt sich dies verneinen. Hilfreich ist ein Blick in die Historie. Wer den konfliktreichen Weg der Ukraine im 20. und 21. Jahrhundert verstehen will, wird in dem Grundlagenwerk „Natiokratie“ von Mykola Sziborskyj fündig. Hier mehr erfahren.
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Man fragt sich, wie der frühere Südtiroler Landeshauptmann Luis Durnwalder zu der Einschätzung gekommen sein mag, dass „die Lage der russischen Minderheit in der Ost-Ukraine durchaus mit jener der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols nach Kriegsende vergleichbar“ sei.
Möglicherweise gewann er diesen Eindruck während seiner umstrittenen Teilnahme am Internationalen Forum „Donbass: Gestern, heute und morgen“ im Mai 2015 in Donezk, wohin er eingeladen war, um die Südtirol-Autonomie zu erläutern (und weswegen die Ukraine ihn, wie alle anderen westlichen Konferenzteilnehmer, zur Persona non grata erklärte). Doch das ist eigentlich nicht wirklich von Belang.
Fakt ist indes, dass er damit nicht nur völlig danebenliegt, sondern auch ein gerüttelt Maß an politischer Ignoranz und Unbelecktheit hinsichtlich der ethnischen, kulturellen, sprachlichen, konfessionellen, kirchlichen sowie staats- und völkerrechtlichen Gegebenheiten der östlichen Ukraine offenbart.
Vor allem zeigt Durnwalder, dass er von den geschichtlichen Rahmenbedingungen und historischen Entwicklungslinien der ukrainischen wie der russischen Staatlichkeit im Rahmen der vormaligen Sowjetunion (1922–1991) sowie danach – also nachdem beide in freier Selbstbestimmung die Souveränität als voneinander unabhängige Staaten erlangten – ebenso wenig Kenntnis hat wie von beider mitunter verschränktem, meist aber abweichenden Geschichtsbild, was darüber hinaus für die jeweils in Anspruch genommenen Befunde über Nationsbildung und Nationalbewusstsein gilt.
Blaskapelle bei einem Festumzug in Mölten, Südtirol. Foto: suedtirol.click | Shutterstock.com
Eine wie auch immer geartete historisch-politische Parallelität zwischen deutsch-österreichischen Südtirolern und der ethnisch-russischen Mehrheits- beziehungsweise ukrainischen Minderheitsbevölkerung der Ost-, Südost- und Südukraine zu sehen, geht sowohl für die Zeit nach dem Zweiten, als auch für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fehl; ganz zu schweigen von den in diesem Raum präsenten Angehörigen anderer Nationalitäten.
Die ethnischen Russen waren im soeben definierten Raum, insbesondere in der infrage stehenden, vom Kohlebergbau geprägten Donbass-Region mit den beiden Gebietsverwaltungsbezirken (Oblasti) Donezk und Luhansk beziehungsweise Lugansk – innerhalb derer sich die nur vom benachbarten Russland anerkannten, einseitig ausgerufenen sogenannten Volksrepubliken Donezk (am 7. April 2014 als Donezkaja Narodnaja Respublika, DNR, ausgerufen) und Lugansk (am 27. April 2014 als Luganskaja Narodnaja Respublika, LNR, ausgerufen) abspalteten – stets Mehrheit.
Die nationale Frage oder die Frage der ethnisch-nationalitätenpolitischen Zugehörigkeit stellte sich nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Untergang der moskowitisch-imperialen Zaren-Autokratie allenfalls in der zeitgeschichtlich kurzen Phase einer westukrainischen Eigenstaatlichkeit zwischen bolschewistischer Oktoberrevolution 1917, dem sich anschließenden Bürgerkrieg und dem Sieg der Bolschewiki Lenins mit darauffolgender Gründung der Sowjetunion (UdSSR) 1922, der die Ende 1918 ausgerufene Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (UkrSSR) beitrat, in der Ost-Ukraine dagegen überhaupt nicht.
Hierbei ist – insbesondere wegen des fundamentalen Unterschieds zur Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg (der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, George F. Kennan) – darauf hinzuweisen, dass in der Ukraine als einer politisch-territorialen Formation, die aus dem infolge der Oktoberrevolution 1917 untergegangenen zaristischen Russland im Entstehen begriffen war und schließlich 1922 durch den Sieg der Bolschwiki Glied der Sowjetunion wurde, eben nicht ein derartiger Konflikt entstehen konnte, wie ihn die Annexion des südlichen Tirols 1918 durch und dessen völkerrechtliche Übereignung an Italien 1919 durch das Friedensdiktat von St. Germain hervorrief.
Molotow, Stalin und Marschall Woroschilow (v.l.n.r.), 1940. Foto: Сталин. К шестидесятилетию со дня рождения, CC0, Wikimedia Commons
Auch nach dem Sieg in dem von Stalin so genannten „Großen Vaterländischen Krieg“ 1945 änderte sich daran in der Ukraine nichts, ganz gleich ob es sich um die West-, um die Zentral- oder um die Ost-Ukraine handelte. Denn die Nationalitätenfrage war im totalitären Machtgefüge der ideologisch dem Internationalismus huldigenden KPdSU-Herrschaft formell nicht existent – und wenn überhaupt, dann konnte sie sich allenfalls im vom Geheimdienst KGB niedergehaltenen Samisdat-Untergrund spärlich regen.
Was man zudem für diese Periode ebenfalls nicht aus den Augen verlieren sollte, ist der nahezu als delikat zu bezeichnende Umstand, dass so gut wie alle führenden aus der UkrSSR in die beiden zentralen KPdSU-Machtgremien entsandten Mitglieder von Zentralkomitee (ZK) und Politbüro (PB) Russen waren.
Um nur die einflussreichsten zu nennen: Wjatscheslaw Michajlowitsch Molotow, Lazar Moissejewitsch Kaganowitsch, Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, Nikolaj Wiktorowitsch Podgornyj, Wladimir Antonowitsch Iwaschko. Zu den wenigen Ausnahmen gehörten Wolodymyr Wassyljowytsch Schtscherbyzkyj und Petro Schelest.
Lesen Sie morgen den dritten Teil dieses Beitrags.
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