Wer sind die Guten? Merz, die AfD und das Schaulaufen im Sommerloch

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Wer sind die Guten? Merz, die AfD und das Schaulaufen im Sommerloch

Friedrich Merz in Andechs, 19.07.2023.

Es ist Juli, der Monat, in dem Redaktionen für jedes Thema dankbar sind, und Friedrich Merz legt einen Streit um kommunalpolitische Zusammenarbeit mit der AfD auf den Tisch. Tut er das wirklich? Oder hat er nur die Gelegenheit genutzt, eine weitere Runde "Wir sind die Guten" zu spielen?

Von Dagmar Henn

Man fragt sich unwillkürlich, war die Äußerung von Friedrich Merz überhaupt ernst gemeint oder war sie nur ein Schauspiel durch einen Politiker, der schon das Rentenalter erreicht hat, um eine weitere Runde Beteuerungen, wie sehr man nichts mit der AfD zu tun haben wolle, zu ermöglichen?

Die Halbwertszeit dieser Aussage lag mit weniger als 24 Stunden an der Untergrenze des technisch Machbaren. Merz, dessen gesamte politische Karriere nicht wirklich von einem Streben nach Konsens geprägt war, wirft ein paar kontroverse Sätze in den Raum und rudert sofort wieder zurück? Das war genau so beabsichtigt.

Schließlich sind bald Landtagswahlen in Bayern und Hessen, zwei der großen Bundesländer, es ist gerade Sauregurkenzeit, und wenn man jetzt ein Thema durch die Presse jagen will, dann bekommt es die ganze Aufmerksamkeit fast ohne Aufwand. Es war doch klar, dass auf einen Satz, der Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene mit der AfD akzeptiert, selbst aus der CDU eine ganze Meute anspringt.

Im eigentlichen Sommerinterview des ZDF, aus dem diese Aussage stammt, gibt es davor einen Einspieler mit einer Reihe von CDU-Kommunalpolitikern, vor allem aus den annektierten Bundesländern, die alle erklären, die Kommunalpolitik sei weitestgehend nicht parteipolitisch, und selbstverständlich müsse man zusammenarbeiten, die proklamierte "Brandmauer" sei widersinnig. Der Einspieler endet mit dem Kommentarsatz: "Friedrich Merz kann die Brandmauer seiner Basis nicht mehr diktieren."

Dann wird, ehe die Frage an Merz geht, ein früheres Zitat von ihm aufgegriffen: "Wenn irgendjemand von uns die Hand hebt, um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren an." Ein Satz, der Merz in die Zwickmühle bringen muss – es blieben in manchen Regionen nicht mehr allzu viele Kommunalpolitiker übrig.

Wobei Kommunalpolitik wirklich ein anderes Feld ist als die Landes- oder Bundespolitik. Selbst bei größter Aufmerksamkeit ist die Zahl der Themen, bei denen man eine grundsätzliche Auseinandersetzung führen kann, äußerst begrenzt. Dort, wo die Kommunen unter Haushaltsaufsicht stehen, also über keine Mittel verfügen, über die frei entschieden werden könnte, werden diese Themen noch seltener. Eine Schulrenovierung benötigt einen Beschluss, weil öffentliche Mittel nicht ohne Beschluss ausgegeben werden dürfen, aber eine politische Auseinandersetzung lässt sich darum nicht führen, weil die Kommune in der Regel dazu verpflichtet ist. In kleinen Kommunen kommt noch der Faktor hinzu, dass sich viele der Beteiligten üblicherweise bereits seit Jahren oder Jahrzehnten kennen, ehe sie sich in der Rolle als Vertreter einer bestimmten Partei begegnen.

"Auf der kommunalen Ebene ist die Parteipolitisierung ohnehin ein wenig zu weit vorangeschritten. Es ist jetzt in Thüringen ein Landrat gewählt worden, und natürlich ist das eine demokratische Wahl. [...] Und natürlich muss dann in den Kommunalparlamenten nach Wegen gesucht werden, wie man gemeinsam die Stadt, das Land, den Landkreis gestaltet."

Hat sich Merz, der alte Hase, da wirklich vom ZDF aufs Glatteis führen lassen, das damit Aufmerksamkeit für seine Sommerinterviews erntet? (der nächste Gast ist der Linken-Vorsitzende Martin Schirdewan, das dürfte der Live-Übertragung einer Beerdigung gleichen). Nein, die Annahme, dass in diesen Interviews echte Überraschungen stattfinden und eine nicht abgesprochene Frage im fertig geschnittenen Beitrag landet, hat keinerlei Grundlage, schon gar nicht bei einem Interview des ZDF, jahrzehntelang der CDU-Haussender, mit dem CDU-Vorsitzenden.

Es ist denkbar, dass er das Wasser prüfen wollte, also ein wenig den Fuß ins Nass gesteckt und mit den Zehen gewackelt hat. Aber dafür hätte er andere Möglichkeiten, das Sommerloch ist da eher ungünstig, weil klar ist, dass Hinz und Kunz bis zum letzten Hinterbänkler auf diese Nummer aufspringen werden.

"Fünf Stunden später, um Mitternacht, sah sich Generalsekretär Carsten Linnemann genötigt, festzustellen: 'Für die CDU ist klar: keine Zusammenarbeit mit der AfD, egal auf welcher Ebene.'", berichtet der Tagesspiegel. Na, wer verbindet schon etwas mit dem Namen Linnemann?

Das RND lässt in seinem Bericht eine ganze Parade auflaufen. Angefangen mit Markus Söder (gerade im Landtagswahlkampf) über den hessischen Ministerpräsidenten Rhein (gerade im Landtagswahlkampf), drei Grünen-Vertreter (Vorsitzende Ricarda Lang, Paula Piechotta und Britta Haßelmann), den bayrischen SPD-Spitzenkandidaten Florian von Brunn, Sebastian Fiedler (SPD-MdB aus NRW), aus der FDP Rüstungslobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann und der FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle; alle betonen sie, wie wichtig es sei, auf gar keiner Ebene auch nur daran zu denken, mit der AfD zusammenzuarbeiten. Einziger Ausreißer ist Julia Klöckner, zurzeit Schatzmeisterin der CDU.

Interessant, dass Söder als Erster zitiert wird. Könnte also auch ein kleiner abgesprochener Gefallen sein, auch wenn Merz und Söder angeblich nicht so wirklich miteinander können. Söder jedenfalls bringt einen Aspekt ins Spiel, der sonst tunlichst vermieden wird.

"Die AfD fordert den Austritt aus EU und NATO und schwächt damit den Wohlstand und gefährdet unsere Sicherheit." Es würde diesen Text sprengen, hier noch einmal nachzuweisen, dass beides weder für den Wohlstand noch für die Sicherheit nützlich ist; das durfte man in den letzten 18 Monaten weidlich genießen. Aber Söder erwähnt diese Punkte, um damit all jene, die von NATO und EU nicht lassen können, zur CSU zu ziehen.

Wer die Geschichte der Bundesrepublik kennt, kann angesichts dieser einhelligen Ablehnung der "rechtsextremen" AfD nur den Kopf schütteln. Da gab es ganz andere Nummern, gerade in der CDU. Ich sage nur Filbinger. Der war immerhin nicht nur Mitglied der Nazi-Partei, er war Richter und hat es geschafft, wenige Tage vor Kriegsende noch einen Deserteur zum Tode zu verurteilen. Man kann sich auch schlicht einmal das Braunbuch zu Gemüte führen. Die Bundesrepublik war so lange auf allen politischen Ebenen mit echten, wirklichen Nazis gespickt, bis diese alle das Pensionsalter erreicht und überschritten hatten.

Inzwischen ist allerdings etwas geschehen, das die ständige Wiederholung dieser "Einheit der Demokraten" erforderlich macht – ein Spiel, das übrigens in der gleichen Weise erst gegen die Grünen, dann gegen die Linke gespielt wurde. Von diesen Varianten unterscheidet sich die heutige darin, dass der angebliche Antifaschismus der Bundesrepublik inzwischen zur Grundlage einer deutschen Variante des Exzeptionalismus wurde.

In den USA, insbesondere bei den Neocons, ist es "die leuchtende Stadt auf dem Hügel", eigentlich eine Referenz der mittelalterlichen Vorstellung vom himmlischen Jerusalem, nicht zufällig eine Idee aus den Kreuzzügen; eine postapokalyptische Stadt, die für das Paradies auf Erden steht und für die Neocons die USA als "auserwählte Nation" symbolisiert.

Die deutsche Variante ist etwas komplizierter und funktioniert über eine Kette aus Kollektivschuld und Katharsis, weshalb sie mit wirklichem Antifaschismus auch gänzlich inkompatibel ist. Wir, die Deutschen, haben uns zutiefst schuldig gemacht (natürlich weder gegenüber den Nazigegnern in Deutschland noch gegenüber der Sowjetbevölkerung, sondern vor allem gegenüber den ermordeten Juden), und leisten dafür immerwährende Abbitte. Aber weil wir uns aus einem solch sündigen Zustand haben bekehren lassen (interessant, in welchem Ausmaß hier christliche Themen verwertet werden), also vom Saulus zum Paulus geworden sind, können wir – wie Paulus – jetzt einen Führungsanspruch erheben.

Würde man die reale Anwesenheit von realen Nazis in der Ukraine eingestehen und zugeben müssen, dass man sie jahrzehntelang erst gerettet, dann beschützt, dann ausgeschickt und schließlich an die Macht gehievt hat, wäre damit die Grundlage dieses Führungsanspruchs bedroht. Ein Makel in der Bekehrung oder gar eine unverkennbare Apostasie darf es nicht geben. Also wird nun ein ins Abstrakte verlagerter Antifaschismus, dieses wolkige "gegen Rechts", bei dem man Konservative und Faschisten munter vermengt, immer dann hervorgezogen, wenn man die Grundlage für die Auserlesenheit mal wieder festigen muss.

Der Wahlkampf, der sowohl in Bayern als auch in Hessen gegen die AfD geführt wird, ist nur ein kleiner Teil dieser Geschichte. Dahinter findet sich die Notwendigkeit, immer wieder die eigene Konversion hervorzukehren. Eine Konversion, deren beständige Betonung für all jene absurd wäre, die tatsächlich in der Tradition der deutschen Antifaschisten stehen; die können es sich leisten, den alten Erkenntnissen zu folgen und in Konservativen nicht den Feind, sondern den möglichen Verbündeten zu sehen. Aber wenn man einen Weltmachtanspruch auf einer Bekehrungsgeschichte aufbaut, braucht es natürlich eine Verkörperung des Bösen, und die wird gefunden, um jeden Preis, gleich, was die Wirklichkeit dazu sagt.

Eine kurze Zeit lang, nach Richard von Weizsäckers Rede vom Tag der Befreiung, wirkte es so, als hätte eine wirkliche antifaschistische Position eine Chance in der Bundesrepublik, nachdem zuvor jahrzehntelang die Nazis protegiert und die von ihnen verfolgten Kommunisten weiter verfolgt worden waren. 1989 war es damit schon wieder vorbei, weil der finsterste adenauersche Antikommunismus entstaubt und wieder in Stellung gebracht wurde. Damit war klar, dass es nur einen geheuchelten Antifaschismus geben wird, denn wenn es einen Punkt gibt, den sämtliche Varianten faschistischer Ideologien und faschistischer Herrschaft, egal, in welchem Jahrzehnt, und egal, auf welchem Kontinent, miteinander gemein haben, dann ist es der militante Antikommunismus. Weil aber im Verlauf dieser finsteren zwölf Jahre alle Nazigegner mit Kommunisten zusammengearbeitet hatten, die unter ihnen die stärkste Gruppe stellten, bedeutete der Schwenk zurück zum Antikommunismus den vollständigen Bruch mit der realen antifaschistischen Tradition.

Alles kein Problem, irgendeinen Popanz wird man sich schon bauen können, der die Rolle übernimmt. Das ist nun eben die AfD. Insofern ist auch nichts an diesem Spektakel außergewöhnlich. Das wirklich Beachtenswerte ist nicht der Zirkus, den Merz entfesselt hat.

Das Beachtenswerte ist die Tatsache, dass er eigentlich Dinge gesagt hat, die Selbstverständlichkeiten sein sollten. Die Kommunalpolitik ist die meiste Zeit zu konkret, um Anlass für diese Art von grundsätzlichem Streit zu liefern. Sie ist auch weitaus stärker mit realen Verhältnissen befasst als Landes- und Bundespolitik. Die Bundespolitik kann das Problem der Wohnungslosigkeit ignorieren, die Kommunalpolitik kann das nicht. Sollte es in Deutschland noch Politiker geben, die imstande wären, das Land aus der Misere zu ziehen, sollte man sie nicht oberhalb der kommunalen Ebene suchen.

Ja, die Kommunalpolitik ist zu sehr im Griff der Parteipolitik, was desto schlimmer wird, je weiter sich diese Parteipolitik von den wirklichen Problemen entfernt. Was Merz tatsächlich getan hat, ist, dieser Tendenz weiteren Schub zu verleihen, indem er im gähnenden Sommerloch eine Schwurrunde eröffnet hat, in der nun alle erklären, die AfD nicht mit der Kneifzange anzufassen, auch nicht auf kommunaler Ebene. Vermutlich willkommene Wahlkampfhilfe, zum Preis einer weiteren Demontage der eigentlichen demokratischen Grundsätze, und eine zusätzliche Gelegenheit, wirklich demokratisches Handeln durch lautstarke Proklamationen, Demokrat zu sein, zu ersetzen.