Autorius: RT Šaltinis: https://deutsch.rt.com/europa/... 2022-09-05 16:37:00, skaitė 517, komentavo 0
Bauernprotest in Warschau am 23. Februar 2022
Von Elem Raznochintsky
Zum Anlass der 83 vergangenen Jahre seit dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen hat die heutige Warschauer Führung am 1. September ein weiteres Kapitel "aufblühender" deutsch-polnischer Beziehungen aufgeschlagen: 1,2 Billionen US-Dollar Reparationen sollten nun die Deutschen abzuzahlen beginnen.
Die Forderung könnte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen, denn Berlin steht indessen vor dem kolossalen Gegenteil eines Wirtschaftswunders, wie der Auftritt der "Ampel"-Regierung in Meseberg letztens noch einmal schmerzhaft illustrierte. Polnische Amtsinhaber beschwichtigen aber, indem sie versichern, dass die Ratenzahlung, die ihnen angeblich vorschwebt, wenig Einfluss auf die Wirtschaftskraft Deutschlands haben werde.
Jetzt ist aber eine Ära angebrochen, in der die deutsche Wirtschaft bereits von mehreren grundlegenden Erschütterungen sehr arg getroffen wurde, und die schlimmsten stehen noch bevor. Eine so angeschlagene Bundesrepublik – in solch fragilem Energieversorgungszustand – wird eine Belastung wie diese durchaus spüren.
Das Bild von einer energischen Wirtschaftszentrifuge inmitten Europas namens "Deutschland", die sich vor lauter Innovation und Fleiß unentwegt dreht und Gewinne sprudeln lässt, hält sich in Polen hartnäckig, wie auch an der Peripherie der EU sowie weltweit. Dieses rosarote Vorurteil ist mittlerweile überholt. Das kann eigentlich auch der polnischen Führung und ihrer historischen und ökonomischen Experten-Kaste nicht entgangen sein.
Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nannte den umfangreichen, 3-bändigen Bericht, auf dem die offizielle Reparationsforderung basiert, eine "ausgestellte Rechnung denjenigen, die sich an Verbrechen gegen die Polen schuldig gemacht haben." Seit 2017 arbeitete eine von PiS initiierte Parlamentsgruppe an dem nun fertiggestellten umfangreichen Forschungsbericht.
"Quo Vadis 2023" – oder "Wohin gehst du nächstes Jahr?"
Als Henryk Sienkiewicz sein Nobelpreis-gekröntes Lebenswerk Quo Vadis in die Welt der Leser entließ, hätte man sich vielleicht noch nicht denken können, dass diese lateinische Frage – "Wohin schreitest du?" – ein zyklisches Credo für die Polen werden würde. Es gab einen Kampf um die "Seele der Republik" seit dem Ende der 1980er Jahre. Dieser zog sich durch die frühen 1990er Jahre, bis es in seinen groben Zügen am Ende der Dekade zu einem ersten Ausklingen kam. Damals ging es darum, endlich zu vergeben und zu vergessen und besser die kommunistischen Kollaborateure, die über Nacht zu NATO-freundlichen Liberal- und Sozialdemokraten mutierten, der Gerechtigkeit zuzuführen. Das ist natürlich nicht geschehen – diese viel zitierte "Dekommunisierung", die eigentlich in ihren mannigfaltigen Facetten einen separaten Artikel verdient. Stattdessen wurde ein modulierbares Vakuum hinterlassen, das alle vier bis fünf Jahre dazu dient, die Polen vor der Wahlurne neuerlich mit falschen Erwartungen aufzuladen.
Ab 2005 – mit einer Zuspitzung 2010, als das Präsidentenflugzeug von Lech Kaczyński mit der gesamten Delegation von 96 Seelen bei Smolensk verunglückte – ging die Teilung der polnischen Gesellschaft weiter. Pure Vernachlässigung, schlechtes Wetter und eine große Birke, Stolz und Sturheit des Präsidentenkollektivs werden seit über zehn Jahren der Hypothese einer – vermeintlich teils russischen – Verschwörung für einen Anschlag gegenübergestellt. Diese beiden Auslegungen bekriegen sich bis heute.
Jedenfalls dauert der vorübergehende Sieg der nationalkonservativen PiS-Partei und ihrer geeinten Rechten seit 2015 und bis heute an. Da aufgrund der sich selbst verstümmelnden Russland-Sanktionen nicht nur für Deutschland, sondern auch für Polen eine turbulente Zeit wirtschaftspolitischer Umbrüche bevorsteht, könnten die Parlamentswahlen 2023 unter extremen innenpolitischen Umständen stattfinden.
Sofern es die oppositionelle Bürgerplattform (PO - Platforma Obywatelska) von Tusk schaffen sollte, die Mehrheit der Polen zu überzeugen, müssten sie dem Volk eigentlich auch gleich erklären, dass die Sanktionen gegen Russland aufgehoben und freundliche Relationen mit Moskau wiederaufgenommen werden müssen. Ansonsten wären verfrühte Wiederwahlen angesagt, da sonst alles beim Alten bleiben würde, denn das russophobe PiS und die russophobe PO würden in den Augen einfacher Wähler zu einem den Lebensstandard senkenden Einheitsbrei verschmelzen.
Einer von vielen Hofjournalisten
Der wohl bekannteste und erfahrenste Medienmann des polnischen Liberalismus ist Tomasz Lis: früherer Korrespondent des polnischen Staatsfernsehens in den USA (1994–1997), hoher Angestellter beim US-amerikanisch-finanzierten, polnischsprachigen Privat-Fernsehsender TVN (1997–2004), langjähriger Chefredakteur von der polnischen Newsweek-Ausgabe (2012–2022), die zum Axel Springer-Netzwerk dazuzählt. Lis ist vom Kaliber und von seinem Einfluss her mit einem Giovanni di Lorenzo (Die Zeit), Markus Lanz (ZDF) oder Ulf Poschardt (WeltN24) hierzulande vergleichbar.
Der gegenüber PiS freundlich gesinnte Verband der polnischen Journalisten (Stowarzyszenie Dziennikarzy Polskich – SDP) verlieh Lis im Jahr 2015 den Anti-Preis namens "Hyäne des Jahres", den der Preisträger vermied, persönlich entgegenzunehmen. Aber noch kurz bevor die rechtskonservative "Ära PiS" 2015 beginnen konnte, wurde Lis vom damaligen Staatspräsidenten Polens, Bronisław Komorowski, mit dem Orden der Polonia Restituta (PR) geehrt. In der präsidialen Begründung dazu hieß es: "… für seine herausragenden Leistungen im Einsatz für die Meinungsfreiheit in Polen, für seinen Beitrag zur Entwicklung freier Medien und eines unabhängigen Journalismus".
Aus dem Neusprech mühsam zurückübersetzt hieße das ungefähr so: "Für die erfolgreiche Propagierung US-amerikanischer Interessen und Prinzipien wie des Liberalismus, von LGBTQ und der unmissverständlichen Vorherrschaft und Deutungshoheit des NATO-Bündnisses in Polen und auf der Welt."
Ja, eine solche Auszeichnung wäre heute unter PiS undenkbar. Denn der jetzige PiS-Präsident Andrzej Duda würde nur mit der Hälfte einverstanden sein können. Und das wäre nicht genug.
Warum so viel Gerede über einen einzigen, einflussreichen Journalisten und Chefredakteur in Polen? Der Werdegang und das Schicksal von Tomasz Lis ist die perfekte Illustration des Weltanschauungs-Slaloms, den das Land Polen systemisch (in Politik und Medien) jede Dekade durchläuft. In vielen Punkten hat Lis sicherlich recht, was die Sollbruchstellen und Verfehlungen des PiS-Regimes angeht. Aber das Verblüffende ist, dass sowohl PiS als auch Lis in polnischer Außenpolitik in den wichtigsten Punkten grob gesehen übereinstimmen: Die NATO muss erweitert werden, Russland muss besiegt werden und die Ukraine muss um jeden Preis als Ganzes der westlichen Weltordnung zugeführt werden.
Tomasz Lis ist gewissermaßen auch der PR-Beauftragte der oppositionellen Kraft um die oppositionelle PO. Er gibt sich derzeit auch große Mühe, den Diskurs so zu lenken, dass das Sentiment um Donald Tusk und sein Team wächst. Besonders über Twitter ist der Publizist aktiv und macht fast täglich Vorschläge, die zu einem Sieg nächstes Jahr führen sollen:
"PO muss Anti-PiS sein, nicht SoftPiS. Alles, was sie zu einer SoftPiS macht, schwächt sie. Außerdem ist eine SoftPiS bereits in der Opposition. Und das ist genug."
Andere Tweets von Lis thematisieren PiS, auch wenn die Partei nicht beim Namen genannt wird:
"In Polen, wie in jedem Land, gibt es keinen Mangel an Dummköpfen, Gaunern, Verlierern und Lügnern, aber die Situation, dass sie eine Partei gründen und das Volk ihr freiwillig die Macht gibt und zulässt, dass sie ihr eigenes Land und die Zukunft ihrer Kinder zerstört, ist dennoch ein gewisses Phänomen."
Falls Tusks politische Bewegung nächstes Jahr Erfolg haben sollte, wäre das auch der Arbeit eines Lis zu verdanken.
Themen, die begeistern
An gesellschaftspolitischen Fragen, wie der Abtreibung, der sexuellen Sitten oder der Familienpolitik, aber auch an den hochaktuellen deutschen Reparationen, an denen sich die Bevölkerung getrost zerreiben kann, fehlt es nicht. Das heißt zwar nicht, dass diese Fragen banal wären, aber sie werden von Warschau aus mit Kalkül zur Instrumentalisierung und Ablenkung genutzt. Während die Dinge, die auch besondere oder sogar größere Dringlichkeit besitzen – wie etwa die Staatsverschuldung, die drohenden Energieversorgungskrisen, die Realpolitik und der Respekt für einen geschichtlichen Kontext bei Konflikten untern den eigenen osteuropäischen Nachbarn –, gänzlich zu kurz kommen.
Beim letzteren kann man auch nicht wirklich von einem Versäumnis sprechen, sondern eher von Vorsatz. Polen stiftet förmlich zur Entartung des Ukrainekrieges als etwas Unausweichliches an und ignoriert die kulturspezifische, schwer zu negierende, dem Westen und der NATO gegenüber skeptische Volksstimmung in den ostukrainischen Gebieten. Für nichts, selbst für die historische Lüge, ist man sich in der polnischen Führung zu schade, um dem aufgebauten Buhmann eines russischen "Imperialismus und Chauvinismus" zu trotzen. Das gilt besonders im Kontrast zu dem Bericht über die einzigartigen Kriegsschäden, die Polen im Zweiten Weltkrieg durch die Nazis erlitten hat und für die es nun auf geschichtliche Wiedergutmachung plädiert. Das ist eine zwiespältige Einstellung, die bedauerlicherweise nur so vor Zynismus trieft, während Warschau zeitgleich die kriegerische Gegenwart im Osten verzerrt und vernebelt.
Berlin zuckt mit den Schultern
Das Auswärtige Amt hat sich unter anderem auf den 2+4-Vertrag bezogen, um eventuelle Reparationsansprüche als nichtig abzuwehren und als unangebracht zu klassifizieren. Inwieweit Polen 1990 Vertragspartei gewesen sei, überlassen wir den Staatsjuristen.
Die Art der Vernichtung und die grausame Okkupationspolitik der Deutschen im besetzten Polen sind ausgesprochen gut dokumentiert. Von den (heute wieder in Berlin) Regierenden der letzten Jahrzehnte wird das Jahr 1953 auch stets als Zeitraum der Regelung für diese wichtige Frage nach Reparationen vorgeschoben. Die damalige Führung in der Volksrepublik Polen hatte unter starkem Einfluss der Moskauer Eliten einen Kurs der Versöhnung und der vermeintlich erfolgten Wiedergutmachung gefahren. Allerdings bestehen bis heute Fragen über die Legitimität der damaligen Volksrepublik Polen als geeigneter Staatskörper, um diese Reparationsfrage nach nur acht Jahren kurz nach Kriegsende ad acta legen zu können.
Hinzu kommt die enorme Grenzverschiebung nach 1945, die bei all dem nicht ganz irrelevant ist. Ursprünglich deutsche Städte, wie Breslau (heute das polnische Wrocław) oder Stettin (heute das polnische Szczecin) könnten plötzlich zu Zielscheiben wiederauferstandener, geschichtlicher Fehden werden. Kombiniert mit derzeit noch im Innern Polens niedergehaltenen Ambitionen, sich selbst die West-Ukraine einzuverleiben, stehen wir womöglich einem neuen Intermezzo territorialer Neuordnungen gegenüber. Anscheinend erhofft sich Deutschland, dass all diese regionalen Irritationen über die ominösen "EU-Reformen", die der Bundeskanzler Scholz an der Prager Karlsuniversität kürzlich ankündigte, im Keim erstickt werden können.
Dass sich hier ein lang angestauter, diplomatischer Krampf angesammelt hat, steht außer Frage. Ein Kompromiss müsste her. Die Polen seien bereits offen für Verhandlungen, die sogar eine jahrzehntelange Abzahlung in Raten in Aussicht stellen könnten. Die Deutschen kommen dem Ansinnen bisher in keiner Weise entgegen und sehen keinen Anlass für weitere, vertiefende Gespräche.
Es ist anzunehmen, dass die Berliner Führung ihrem erprobten Brüsseler Kollegen Donald Tusk für das nächste Jahr – mit gehörigem Angstschweiß auf der Stirn und Schaum vor dem Mund – die Daumen drücken wird. Ansonsten wird die Verhärtung beider mitteleuropäischer Nachbarn innerhalb der heutigen EU voranschreiten. Aus führenden polnischen Regierungskreisen wird erkennbar, dass man dort für die in Berlin und Brüssel bereits geschmiedeten Pläne einer föderalistischen Form der "Vereinigten Staaten von Europa" wenig übrig hat.
Die Rückkehr von Donald Tusk
Der oppositionelle Kronprinz Polens und de facto Oppositionsanführer heißt Donald Tusk. Der sieht in der neuen Spirale der Reparationsforderungen, die Jarosław Kaczyński mit seiner PiS entfacht hat, ein weiteres Schema der Bündelung von gesellschaftlichem Sentiment. Man hoffe so, die Bevölkerung rechtzeitig zu einen, um erfolgreiche Parlamentswahlen im nächsten Jahr zu verbuchen. Tusk ist selbst gerade dabei, die Oppositionskräfte zu harmonisieren, um das Wahljahr 2023 für sich zu entscheiden. Nicht ganz ohne Hürden. Tusk, der bereits von 2007 bis 2014 polnischer Ministerpräsident war, wird dicht verfolgt von Tomasz Siemoniak, seinem ambitionierten Vize-Parteivorsitzenden bei der Platforma Obywatelska. Dieser hat den PiS-gesponserten Forschungsbericht über deutsche Kriegsschäden ein "antideutsches Festival" genannt. Da sind sich also beide einig. Dennoch gibt es innere Parteikämpfe, denn es kann einen zukünftigen Regierungschef nur in einer Person geben.
Viel wird davon abhängen, wie sich die Nowa Lewica (Neue Linke), die erst während der Coronakrise aus der klassischen Linkspartei SLD (Sojusz Lewicy Demokratycznej) hervorgegangen ist, positionieren wird. Wenn sie sich erst in allerletzter Instanz öffentlich dazu bekennt, die PO im Kampf gegen PiS zu unterstützen, könnte es knapp werden. Ihr Vize-Vorsitzender Robert Biedroń, der ein energischer Verfechter von LGBTQ-Rechten ist, müsste überzeugende Zugeständnisse von Tusk erhalten.
Natürlich wird es der PO viel einfacher fallen, eine Symbiose mit der "Polnischen Bauernpartei" (Polskie Stronnictwo Ludowe - PSL) zu erbitten, da hier die Werte einer zentristischen, liberal-konservativen Ausrichtung offensichtlich sind. Außerdem sind beide Parteien in der Europäischen Volkspartei (EVP) vertreten. Aber die Historie dieser PSL ist eine von Königsmachern: 2005 gingen sie eine Koalition mit PiS ein. Nach den vorgezogenen Neuwahlen 2007 war der Koalitionspartner bereits wieder der Erzfeind: die Bürgerplattform (PO).
Selbst wenn, Wählerstimmen der PSL werden Tusk und Siemoniak bei Weitem nicht ausreichen, um den "Goliath" PiS auch nur im Ansatz zu bezwingen – auch nicht mit der Unterstützung der Linken. Da kann die Oder noch so vergiftet worden sein.
Ein öffentlichkeitswirksames und ausreichend im Voraus kommuniziertes, glaubhaft handelndes Ensemble aller anderen Oppositionsparteien aller politischen Richtungen – nach dem ungarischen Beispiel "gegen Fidesz und Viktor Orbán" – müsste her. Das Hauptattribut eines solchen mannigfaltigen Konstrukts wäre der plumpe Wunsch, die PiS-Ära um jeden Preis zu beenden. Diese Hoffnung könnte sich als zu kurzlebig und oberflächlich erweisen. So war es zumindest in Ungarn.
Ein illustres Beispiel eines oppositionellen Seiltanzes ist folgendes: Laut Umfragen sei glatt die Hälfte des polnischen Volkes für neue Reparationszahlungen aus Deutschland, weshalb der frühere EU-Ratspräsident Tusk (von 2014 bis 2019) und sein Parteikollege Siemoniak vorsichtig sein müssen, um nicht allzu viele Wähler zu vergraulen. Den Verzicht auf auch nur einen von ihnen kann sich die jetzige Opposition nicht leisten.